Reichweite und Umfang der Aufklärungs- und Beratungspflichten des Anwalts
In einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20.10.1994, Az: IX ZR 116/93, machten die zuständigen Richter den Umfang und die Reichweite der anwaltlichen Aufklärungs- und Beratungspflichten deutlich.
1. Beratungsfehler der verklagten Anwälte
In dem Fall hatte die Klägerin eine Eigentumswohnung unter der Bedingung gekauft, dass der Verkäufer die ausstehenden Fertigstellungsarbeiten an der Wohnung vornehmen würde.
Die Arbeiten wurden jedoch vom Verkäufer nicht fertiggestellt, so dass eine Vermietung nicht stattfinden konnte. Die Klägerin wandte sich daher an die später verklagten Anwälte, um den Kaufvertrag rückabzuwickeln. Dabei bat sie auch darum, bei dem Weiterverkauf der nicht brauchbaren Wohnung zu helfen.
Die verklagten Anwälte machten daraufhin gerichtlich die Rückabwicklung des Kaufvertrags geltend und halfen der Klägerin – wie von dieser gewünscht – bei dem Verkauf der Wohnung.
Die Anwälte wiesen die Klägerin allerdings nicht auf andere Vorgehensmöglichkeiten hin, die für sie sehr viel vorteilhafter gewesen wären. So hätte in diesem Fall die Forderung von Schadensersatz wegen Nichterfüllung anstelle des Rücktritts zu einer viel weitergehenden finanziellen Genugtuung geführt.
2. Aufklärungs- und Beratungspflichten des Anwalt
Die verklagten Anwälte verteidigten sich damit, sie seien lediglich so vorgegangen, wie die Klägerin es ausdrücklich gewollt hätte. Daher seien sie für den Schaden der Klägerin nicht verantwortlich.
Dieses Argument konnte der Bundesgerichtshof allerdings nicht nachvollziehen.
Ein Rechtsanwalt ist verpflichtet – so der BGH – seinen Mandanten umfassend zu beraten und ihn über seine verschiedenen rechtlichen Vorgehensmöglichkeiten aufzuklären, selbst wenn der Mandant von sich aus eine Möglichkeit nicht ins Auge fasst. Dazu muss der Rechtsanwalt den Sachverhalt durch intensives Befragen des Mandanten ermitteln; weiterhin muss der Rechtsanwalt prüfen, ob der vom Mandanten vorgetragene Wunsch unter rechtlichen Gesichtspunkten auch vernünftig ist und ihm gegebenenfalls Alternativen aufzeigen.
Insbesondere muss der Anwalt seinem Mandanten den geeignetsten und sichersten Weg zum angestrebten Erfolg aufzeigen, um ihn so vor vermeidbaren Nachteilen zu bewahren. Mögliche Risiken und Bedenken gegen einen vom Mandanten vorgeschlagenen Weg müssen vom Anwalt unaufgefordert dargelegt werden.
Dieser umfangreichen Nachforschungs- und Aufklärungspflicht hatten die verklagten Anwälte nicht genügt, so dass sie der Klägerin den hierdurch entstandenen Schaden ersetzen mussten.
In einem neueren Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22.09.2005, Az: IX ZR 205/01, schränkte der BGH diese Hinweispflicht allerdings insoweit ein, dass bei der Beratung des Mandanten eine besondere Nachdrücklichkeit oder Eindringlichkeit nicht erwartet werden kann. Entscheidet sich der Mandant – nachdem ihm die möglichen Nachteile aufgezeigt wurden – frei für eine bestimmte Vorgehensweise, so muss der Anwalt nicht darauf drängen, dass sein Rat befolgt wird.
Fazit von RA Spirgath:
Das Urteil vom 20.10.1994 ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil es die Grundsätze, die bereits das Reichsgericht (JW 1932, 2845) zur Frage der Reichweite von Anwaltspflichten aufgestellt hatte, vollständig übernommen hat.
Von dem Rechtsanwalt kann daher verlangt werden, dass er nicht nur blind die laienhaft vorgetragen Wünsche seines Mandanten umsetzt. Vielmehr muss er diese auf ihre rechtliche und wirtschaftliche Sinnhaftigkeit überprüfen und Alternativen aufzeigen.
Letzlich wird der Rechtsanwalt dem Bild des „Beraters“ seines Mandanten nur dann gerecht, wenn er diese Voraussetzungen in das Mandatsverhältnis mit einbringt.